von Axel Nitz, Komponist und Autor, München
Für den hl. Philipp Neri spielten Kunst und Musik eine herausragende Bedeutung. Zeitlebens war er mit seiner Gemeinschaft, dem Oratorium, offen für neue und bisweilen umstrittene Impulse aus der Kulturszene der Renaissance.
Diese Kulturepoche richtet sich zunehmend auch an den Laien, die Kunst orientiert sich mehr und mehr an ein allgemeines Publikum. Das neue Welt- und Selbstbild, die neu geforderte Autonomie im Denken des Einzelnen, Autorschaft und „Demokratisierung“ führten zu einer zunehmenden Verwendung der jeweiligen Volkssprachen. Buchdruck und Reformation verbreiteten das Wort Gottes, das sich jetzt direkt und unmittelbar an alle richten sollte. Es bildet sich eine neue Musiksprache aus. Die Folgen waren gewaltig: Wir stehen an der Schwelle zur Neuzeit.
Die von Philipp Neri gegründete Kongregation des Oratoriums vertrat ein Ideal der Einfachheit. Die Unmittelbarkeit der menschlichen Begegnung, die Verständigung wie die Emanzipation ihrer Teilnehmer waren Ausdruck einer Reformation von innen. Wie Luther forderte auch Philipp Neri die Orientierung an der heiligen Schrift, Ragionamento sopra il Libro: alle nahmen am Gespräch teil, hörten zu und brachten ihre Meinung vor. Das Oratorium als eine Organisation für alle, arm oder reich, gebildet oder ungebildet, Laien oder Studierte war Vorbild für das Oratorium als musikalische Form. Im Oratorium fanden geistliche Andachten in der Volkssprache (also Italienisch) statt, als Ergänzung zu den „offiziellen“ Gottesdiensten, die auch hier selbstverständlich in der liturgischen Sprache Latein durchgeführt wurden. In den Andachten wechselten sich Gebete, kleinere Predigten und Musikstücke ab.
Von besonderer Bedeutung für die musikalische Gestaltung dieser Feiern waren die Lauden, mehrstimmige Lobgesänge auf Texte der traditionellen italienischen, volkstümlichen, geistlichen Lyrik. Philipp liebte die Lauden des Lyrikers Jacopone da Todi, ebenfalls in Italienisch geschrieben. Eine Wurzel der musikalischen Form des Oratoriums scheint also bis in die Laudendichtung des 13. Jahrhunderts zurückzureichen. Und es scheint so, als wären vor allem jene Lauden in Dialogform von besonderem Interesse gewesen, die Gespräche zu einem geistlichen Thema, beispielsweise zwischen Lehrer und Schüler, zwischen Christus und der Seele, aber auch zwischen allegorischen oder biblischen Figuren zum Thema hatten.
Die Laudi Spirituali des Giovanni Animuccia (ca. 1514-1571) gelten in der Musikgeschichte allgemein als Vorläufer der musikalischen Gattung des Oratoriums. Animuccia stand (wie auch Palestrina) mit Philipp Neri in Verbindung und komponierte diese Laudi für dessen Andachten. Formal und satztechnisch sind diese einfach gehalten. Auch hier hatte die Textverständlichkeit oberste Priorität. Bekannt ist folgendes Zitat Animuccias: „Ich hielt mich, so gut ich konnte, von den Verwicklungen der Fugen und anderer Erfindungen fern, damit nichts die Bedeutung der Worte in Verwirrung bringe.“ Dies entspricht Philipps Denken in spiritu et veritate et in simplicitate cordis – im Geist, in der Wahrheit und in der Einfachheit des Herzen.